Article by Magdalena Mösenlechner

Mia Gatow: Vom erlernten Suff zum Sober-Lifestyle

Alkohol war für Mia immer ganz normal – in der Familie, in der sie aufwuchs, bei allen möglichen Anlässen und als Coping-Strategie, wenn es ihr schlecht ging. Doch gerade, weil es so normal ist zu trinken, kostete es Mia viele Jahre, um ihren problematischen Konsum zu erkennen. Im Gespräch mit The Wild Golden Egg erzählt sie von ihrer Reise zu einem nüchternen Leben, einer irrtümlichen Emanzipation und der Soberness-Bewegung.

Mia Gatow arbeitet als Autorin, Illustratorin und Designerin in Berlin. Gemeinsam mit Mika Mareike veröffentlicht sie regelmäßig den Podcast SodaKlub, in dem sie Content machen für alle, die ein nüchternes Leben führen wollen.

 

The Wild Golden Egg: Wie kam es zu eurem Podcast?

Mia: In den USA gibt es zum Thema Soberness schon seit einigen Jahren eine richtige Bewegung. Es gibt sehr viele Podcasts, Publikationen und Aktivisten und Aktivistinnen, die sich mit dem Thema Alkohol beschäftigen, um das aus dieser stigmatisierten Ecke rauszuholen. Mika und ich, wir haben beide ganz viel zur Begleitung unseres Aufhörens mit dem Trinken amerikanische Podcasts gehört. Uns fiel auf, in Deutschland gibt es kaum deutschsprachige Angebote dazu. Es gab weit und breit irgendwie drei, vier Leute, die vielleicht mal vor zehn Jahren ein Buch geschrieben. Deswegen haben wir diesen Podcast gegründet, den SodaKlub.

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Erlerntes Trinken

 

The Wild Golden Egg: Wie bist du aufgewachsen?

Mia: Ich komme aus einer trinkenden Familie. Meine Urgroßmutter hat getrunken, meine Oma hat getrunken, ihr Sohn – mein Vater – hat getrunken. Viele sind daran gestorben, viele sind davon krank geworden. Im Prinzip hatten fast alle Leute in meiner Familie ein Thema damit. Alkohol war für mich immer schon normal, und allgegenwärtig. Er ist halt in unserer Welt überall verfügbar. Es wird überall getrunken, auf jeder Feierlichkeit, zu jedem Anlass.

Mein Elternhaus war jetzt nicht besonderes Also es war nicht gewaltvoll. Es gab kein Trauma oder so, was mich prädestiniert hätte fürs Trinken. Als ich dann Design in Berlin studierte, habe ich nebenbei in Bars gearbeitet. Barkeeping war natürlich gekoppelt an eine sehr trinkfreudige Gemeinschaft. Ich würde sagen, in meinen Zwanzigern hat sich mein Trinkproblem verfestigt. Da habe ich die die Abhängigkeit sozusagen gelernt oder mir selber beigebracht. Zu Beginn meiner Dreißiger war das dann schon so ein belastetes, anstrengendes Thema für mich. Deswegen habe ich dann Anfang 30 aufgehört.

The Wild Golden Egg: Das heißt, du hast die Abhängigkeit gelernt? Was hast du dir da beigebracht?

Mia: Ich habe mir beigebracht, dass es schick ist, dass es rebellisch ist, dass es cool ist, dass es gut aussieht, dass es sexy ist, dass es frei ist. Das ist das Bild, mit dem wir auch aufwachsen. Neulich wurde das so ein bisschen behandelt in Bezug auf Postfeminismus. Ich bin 1984 geboren und in der Tradition des Postfeminismus aufgewachsen. Dieser Spice Girls- und Sex and the City-Feminismus. Wir brauchen eigentlich Emanzipation gar nicht mehr, weil wir haben schon alles. Wir können genauso Geld verdienen wie die Typen. Wir können genauso promiskuitiv sein und auf die Kacke hauen, wie die Typen. Wir haben irgendwie alles und das Trinken gehört da dazu. Eine starke, coole, entspannte, sexy Braut trinkt halt wie die Typen. Ich hatte dieses Bild von Freiheit und Stärke, das mit Alkohol verknüpft ist, verinnerlicht.

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The Wild Golden Egg: Wann hast du dann gemerkt, dass dieses Image, dass du dir selbst eingeredet hast und auch medial gefüttert wurde, ein Problem ist? Wie hat sich das entwickelt?

Mia: Das ist ganz schwer zu sagen, weil ich glaube, dass die meisten Leute eine Antwort möchten, wie an diesem einen Tag durch dieses eine Ereignis. „Ich bin im Knast gelandet“ oder „Ich bin ohnmächtig geworden und ich hab mir den Zahn ausgeschlagen.“ Also so einen genauen Punkt, wo einem das dann plötzlich klar wird. So ist es aber nicht. Es war ein langer, schleichender Prozess. Du merkst einfach das Trinken wird immer wichtiger und wichtiger und wichtiger. Du verhandelst mit dir selbst die ganze Zeit.

Wir werden sozialisiert mit der Idee, dass ein Alkoholiker oder eine Alkoholikerin jemand ist, der keinen Job mehr hat, dessen Kinder nicht mehr mit ihm reden, der auch körperlich abhängig ist, der morgens Händezittern hat. Und wenn wir da noch nicht sind – und die wenigsten Leute kommen da an – dann können wir uns halt immer noch einreden, wir hätten kein Problem. Mein Verhältnis zum Trinken war angespannt und toxisch.

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Vom Ende zum Anfang

 

Mia: Ich habe mir immer gedacht, ich muss weniger trinken und das ein bisschen einschränken. Ich bin zu oft verkatert, ich fühl mich zu oft schlecht und werde depressiv davon. Dann habe ich irgendwann meinen eigenen Bullshit nicht mehr geglaubt. Weil ich habe mir ständig vorgenommen weniger zu trinken oder etwas anderes zu trinken. Nur Bier anstatt Wein oder nur Wein anstatt Gin Tonic. Diese Regeln habe ich so oft gebrochen. Ich schaffte es nicht, diese Regeln einzuhalten, die ich mir selber setzte. Das ist übrigens dieser Kontrollverlust, von dem immer geredet wird. Ich habe nicht mehr die Entscheidungsgewalt darüber, wie viel ich trinke.

The Wild Golden Egg: Wie hast du dann damit aufgehört?

Mia: Ich habe mich eines Abends von meinem Freund getrennt, mit dem ich damals zusammen war. Ich bin ich am nächsten Tag mit einem üblen Kater aufgewacht und dachte so „Okay, es bringt alles nichts.“ Dann habe ich noch einen Tag gewartet, bis der Kater ein bisschen milder geworden ist und bin zu den Anonymen Alkoholikern gegangen, zu einem Meeting bei mir um die Ecke. Es hat sich wirklich so angefühlt, als ob irgendwas von mir Besitz ergreift. So als ob ich das nicht mehr wirklich selbst entscheide. Ich bin also wie ferngesteuert hingegangen. Ich habe mich einfach hingesetzt und habe kapituliert. Okay, das ist jetzt hier mein Ort. Ich höre mir das jetzt an und vielleicht hilft es ja. Also mal gucken, ob die hier bessere Antworten haben. Und das hatten sie ja letztendlich.

Die Leute bei AA sind sehr nette Menschen, die natürlich alles verstehen. Also diese ganzen Dramen, die in deinem eigenen Kopf die meiste Zeit über ablaufen. Da redet man mit anderen Leuten auch nicht drüber. Aber sie verstehe das. Du bist kein Einzelfall, wenn du so ein Thema am Laufen hast. Du denkst das nur, weil da keiner drüber redet.

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Befreite Frauen – im Suff

 

Mia: Im letzten Jahrhundert war es für Frauen nicht schick zu trinken. Sie durften auch nicht in Bars gehen. Es gab den sogenannten Kölnisch Wasser-Alkoholismus. Frauen haben damals ohne Scheiß Kölnisch Wasser – also Parfum – getrunken.

The Wild Golden Egg: Es war nicht schick.

Mia: Ja, genau. Sie durften es nicht offen machen. Es wurde halt viel mehr stigmatisiert als bei Männern. Frauen-Gold zum Beispiel war ein Likör-Wein, der als Arznei verkauft wurde an Frauen, damit sie halt ihre Frauenrolle und ihre Männer ein bisschen besser ertragen. Als das aufgebrochen wurde durch die 68er-Bewegung, da haben die Frauen sich männliche Domänen zu eigen gemacht. Das Trinken wie die Männer wurde in diesem zweite Welle Feminismus zum Symbol für eine befreite Frau.

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Alkohol als Seelenpflaster

 

The Wild Golden Egg: Stellt Alkohol auch eine Art Coping-Strategie dar?

Mia: Frauen sollen den Laden emotional zusammenhalten. Sie feierten noch vor einigen Jahrzehnten, dass sie alles machen dürfen und jetzt sollen sie alles machen müssen. Sie sollen halt die Karriere machen und die Kinder betreuen und den Mann auch emotional managen. Das hat auch mit dem Patriarchat zu tun. Alkohol ist natürlich eine Strategie, die bei der Entspannung helfen kann. Er ist leicht zu haben, es ist gesellschaftlich überaus akzeptiert und es wirkt halt. Alkoholismus selbst ist indes auch nur eine Konstruktion. Es ist ja nicht bloß eine Krankheit, sondern es ist ja eine, eine riesige, gesellschaftlich verhandelte Konstruktion, die wir da alle am Laufen halten letztendlich.

The Wild Golden Egg: Und welche Konstruktion ist das? Was leben wir da für ein Konstrukt?

Mia: Wir erzählen uns eben alle, dass Alkohol – verantwortungsvoll konsumiert – ein Genussmittel ist, was wir alle auch genießen sollten und müssten. Und dass die Leute, die das nicht können oder wollen, krank sind. Alkoholiker:innen leiden also an einer Krankheit, weil sie sich das nicht reinziehen können. Ich meine, man muss nur mal probieren auf irgendeiner Party nicht zu trinken. Es ist die einzige Droge, bei der man sich rechtfertigen muss, wenn man sie nicht nimmt. Man stelle sich vor, das wäre bei Zigaretten so. Wenn du aufhörst zu rauchen, fragt niemand warum. Was ist schon abhängig? Willst du nicht mal eine? Wenn man sich das mal so anguckt von der anderen Seite aus – es kommt einem vor, als wäre man die ganze Zeit im falschen Film gewesen.

Wie kann das sein, dass auch die Bundesregierung nicht von der Droge Alkohol spricht, sondern immer nur konsequent von Alkohol und Drogen. Als wären es zwei unterschiedliche Sachen. Wenn man sich dann die Folgen anguckt für das Individuum und die Gesellschaft, dann sieht man, dass Alkohol verheerende desaströse Folgen hat. Jede vierte Gewalttat wird unter Alkoholeinfluss verübt. Sexualisierte Gewalt hat sehr viel mit Alkohol zu tun. Die Opfer sexualisierter Gewalt sind in 90 Prozent der Fälle unter Alkoholeinfluss.

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The Wild Golden Egg: Wie wirkt sich Alkohol als Coping-Strategie aus?

Mia:  Das Einzige, was es macht, ist, dass man es schafft in untragbaren Zuständen zu bleiben. Ich kenne eine Frau, die in einem Job blieb, der sie psychisch fertiggemacht hat. Als sie aufgehört hat zu trinken, war das erste, was sie gemacht hat, diesen Job zu kündigen. Wenn du anwesend bist für dein Leben, dann kannst du nicht mehr wider die Natur handeln. Du kannst nicht mehr untragbare Zustände hinnehmen, auch in Beziehungen nicht. Ich hätte nie die Beziehung, die ich geführt habe. ohne Alkoholeinfluss geschafft.

Wenn ich wach bin und alles mitkriege und alles fühlen muss, was in meinem Leben vor sich geht, dann muss das gut sein. Wenn ich nicht mehr die Chance habe, mich wegzuballern, dann muss ich mir ein gutes Leben bauen. Ich habe dann angefangen, viel mehr zu schreiben und meinen Job so umgestellt, dass er besser zu mir passt. Ich habe immer mehr als freie Autorin gearbeitet, was ich eigentlich immer schon wollte und mir nie wirklich zugetraut habe. Ich habe bessere Beziehungen und eine bessere Beziehung zu mir selbst. Ich kenne mich selber besser und ich fühle interessantere Dinge. Ich bilde mir auch ein, dass ich klüger geworden bin. Das wird sehr unterschätzt, was trinken psychisch mit einem macht. Also ich habe schon gemerkt, dass ich wie diese Comicfiguren mit so einer dunklen Wolke über mir rumlaufe und das mit dem Alkohol zusammenhängt. Das habe ich damals nicht kapiert, aber das sehe ich jetzt sehr deutlich.

The Wild Golden Egg: Wie stehst du zum Thema Selbstliebe?

Mia: Ich finde immer, die Selbstliebe ist ein bisschen zu viel gewollt. Ich persönlich finde es gut nur okay mit mir zu sein. Ich muss mich, um ein gutes Leben zu haben, nicht unglaublich toll finden die ganze Zeit.

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The Wild Golden Egg: Hast du noch Lust auf Alkohol?

Mia: Entschiedenes Nein. Am Anfang habe ich so körperliche Sehnsucht gehabt. Manchmal, wenn ich Rotwein gerochen habe. Das war mein Getränk. Aber das ging sehr schnell weg und machte einer großen Erleichterung Platz. Ich muss es nicht mehr machen. Ich bin frei davon.

The Wild Golden Egg: Was trinkst du dann so abends, wenn du ausgehst?

Mia: Tonic Water – wenn ich will, dass es wie ein Drink aussieht und mich keiner darauf anquatscht.

The Wild Golden Egg: Wie regulierst du jetzt deine Gefühle?

Mia: Ich mache Sport. Das hilft super gegen ungewollte Gefühle. Wenn man wütend ist, dann gibt nichts Besseres als rennen. Ich schreibe nach wie vor sehr viel. Das ist auch therapeutisch. Ich rede mit Freunden. Ich fühle meine Gefühle halt einfach. Es muss sich auch nicht immer alles gut anfühlen. Man wird resilient mit der Zeit. Das setzt nicht sofort ein, aber wenn du dauerhaft darauf verzichtest, dich zu betäuben, dann merkst du, wie dein System stärker wird. Du kannst dann ein Gefühl auch aushalten. Du musst nicht mehr, wenn du eine Spur von Traurigkeit in dir findest, sofort etwas draufkippen. Du kannst auch einfach traurig sein und das ist voll okay. Das geht dann wieder weg von alleine. Mittlerweile bin ich tatsächlich über negative Gefühle froh, weil ich einfach grundsätzlich dankbar bin, dass ich ein fühlendes Wesen bin und dass ich durchlässig bin für die Welt.

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The Wild Golden Egg: Für Männer scheint es oft schwieriger zu sein, Probleme mit Alkohol zu reflektieren. Woher kommt das?

Mia: Wir fragen uns das auch, woran liegt das. Ich glaube, dass es damit zusammenhängt, dass es für Frauen akzeptierter ist, schwach zu sein und Scheitern zuzugeben. Das ist für einen Mann immer noch eine größere Hürde. Es ist auch bei Männern stigmatisierter, wenn sie Depressionen haben. Deswegen müssen Männer traditionell ihre Gefühle eher unterdrücken oder zumindest bagatellisieren.

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Auf der Suche nach Lösungen

 

The Wild Golden Egg: Möchtest du unseren Leserinnen und Lesern zu diesem Thema noch drei Dinge mit auf den Weg geben?

Mia: Drei Dinge. Also, erstens würde ich dazu raten, sich zu informieren. Es gibt tolle Bücher aus dem englischsprachigen Raum, aber auch hierzulande. Zum Beispiel „Nüchtern“ von Daniel Schreiber, dass ich immer empfehle. Damit kann man einsteigen. Dann kann man natürlich unseren SodaKlub Podcast hören.

Als zweites würde ich sagen vernetzt euch, etwa bei den AA. Ich persönlich finde das super, weil die Organisation groß ist und es gibt sie überall. Sich zu vernetzen und Leute zu finden, die das gleiche Ding am Laufen haben, hilft sehr. Es hilft darüber zu reden, was in einem vor sich geht. Das ist eigentlich die Lösung. Das ist die Heilung. Das ist letztendlich der Weg aus jeder Abhängigkeit.

Als Drittes rate ich noch zum Schreiben. Also um Gefühle zu managen, ist das Schreiben tatsächlich hervorragend. Ich glaube, dass es auch heilsam für Leute sein kann, die das noch nie gemacht haben. Man hat plötzlich sehr viel Zeit, wenn man aufhört zu trinken. Diese ganzen Dinge aufzuschreiben, das hilft sie zu verstoffwechseln.

 

 

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