Article by Florentina Glüxam
Wenn Männer nicht mehr leben wollen: Warum Suizidprävention wichtig ist
Suizid zählt in Österreich bis zum 50. Lebensjahr zu einer der häufigsten Todesursachen. Die Mehrheit aller Betroffenen sind männlich. Liegt das jedoch wirklich an der sich unterscheidenden körperlichen und seelischen Konstitution von Mann und Frau, oder verbirgt sich dahinter eine auf Stereotypen beruhende Ungleichbehandlung?
Im Jahr 2020 nahmen sich 1.072 Personen das Leben, worunter mehr als drei Viertel der Todesopfer männlich waren. Der Unterschied zwischen den Geschlechtern macht sich auch im relativen Rückgang der Suizidfälle seit 1986 bemerkbar: Dieser ist bei Männern weniger stark ausgeprägt. In der Gesundheitsvorsorge ist das Geschlecht leider nach wie vor ein bestimmender Faktor. Vor allem psychische Erkrankungen werden bei Frauen häufiger erkannt und behandelt.
Weibliche Depression – Männlicher Selbstmord
Depressionen werden häufiger bei Frauen diagnostiziert, weswegen es beim weiblichen Geschlecht vergleichsweise häufiger bei Suizidversuchen bleibt. Männer hingegen leben statistisch häufiger mit psychischen Erkrankungen, die nicht rechtzeitig erkannt werden. Zudem erklärt der Gender-Gesundheitsbericht vom August 2019, welche Faktoren Depressionen begünstigen. Grundsätzlich gilt: Ein gutes Einkommen, Bildung und ein hoher Sozialstatus wirken psychischen Krankheiten sowie Suiziden entgegen. Einer der Gründe für die hohe Suizidrate bei Männern kann somit die im Vergleich zu Frauen höhere Arbeitslosigkeitsrate und der arbeitsbedingte Stress sein. Außerdem weisen Männer ein erhöhtes Sucht- und Risikopotenzial auf, welches Depressionen begünstigen kann.
Zudem suchen Frauen im Gegensatz zu Männern häufiger professionelle Hilfe auf, wodurch ihnen im Ernstfall schneller geholfen wird. Die Problematik hinsichtlich der Diagnostik besteht allerdings darin, dass Anamnese- und Diagnoseinstrumente nach wie vor auf stereotype Rollenzuschreibungen angepasst sind. Das führt im Endergebnis zu einer Überdiagnostizierung von Depressionen bei Frauen und einer Unterdiagnostizierung bei Männern.
Biologie ist kein Grund
Im Vergleich zu den psychosozialen Einflüssen, spielen biologische Faktoren sogar eine untergeordnete Rolle. Dennoch liegt der Fokus in der Medizin nach wie vor überwiegend auf den biologischen Unterschieden. Eine Theorie ist beispielsweise, dass sich hormonelle Umstellungen auf Depressionen und Ängste auswirken. Im Alter und auch bei andauerndem Stress sinkt bei Männern der Testosteronspiegel und damit steigt auch das Risiko, an einer Depression zu erkranken. Jedoch wurde bislang nicht geklärt, ob Testosteron tatsächlich depressiven Erkrankungen vorbeugen könne.
Das Suizidrisiko erhöht sich bei Depressionen um das zwanzigfache und die Hälfte aller Suizide wird aufgrund einer depressiven Erkrankung begangen. Bei Suizidversuchen wird sogar davon ausgegangen, dass die Zahlen im Vergleich zu vollendeten Selbsttötungen zehn- bis dreißigmal so hoch sind. Gerade beim Thema Suizid ist die Verzweiflung Betroffener und deren Angehöriger besonders groß. Denn wie lässt sich das scheinbar vermeidbare verhindern? Wie kann suizidalen Menschen rechtzeitig geholfen werden?
Unmännliche Depression
Wer bereits bei der Erkennung der Depression ansetzen möchte, muss berücksichtigen, dass Selbstaufmerksamkeit bei Männern schwächer ausgeprägt ist. Häufig werden körperliche Gebrechen ausgeblendet oder verharmlost. Das führt zwar insgesamt zu einer höheren Toleranz gegenüber körperlichen und psychischen Symptomen, erschwert allerdings die Früherkennung einer Depression. Frauen hingegen lenken ihre Aufmerksamkeit öfter auf ihre körperlichen und seelischen Bedürfnisse, wodurch sie bei Beschwerden im Vergleich zu Männern häufiger Ärzt:innen aufsuchen. Der Grund: Nach dem stereotypen Rollenverständnis dient der männliche Körper nur der Erbringung von Leistung. Ein Besuch bei einem Arzt oder einer Ärzt:in wäre somit gleichzeitig ein Zugeständnis von Schwäche und damit einhergehendem Autoritätsverlust.
Noch drastischer sieht es bei den Suiziden aus: Studien zeigen, dass durch Männer verübte Suizide gesellschaftlich akzeptierter sind. Diese wählen extremere Selbsttötungsmethoden und gelten als „unmännlich“, wenn sie dabei scheitern sollten. Diese Entwicklung ist historisch begründet, da Suizide bei Männern als „ehrenhafte Tode“ oder in der Popkultur als „glamourös“ galten. Als prominentes Beispiel gilt Kurt Cobain, der mit Heroin überdosierte und sich anschließend selbst erschoss.
Natürlich spielen bei der Entstehung von Depressionen nicht nur soziale Faktoren eine Rolle, sondern auch biologische und psychologische. Dasselbe gilt für die Suizidalität. Nichtsdestotrotz: Wer depressiv ist, muss nicht zwangsläufig akut suizidgefährdet sein. Aus diesem Grund wird auch zwischen Suizidgedanken, Suizidabsichten und ausgeführten Suiziden differenziert.
Wut & Feindseligkeit statt Trauer & Schwäche
Einer der Gründe für die fehlende Erkennung von Depressionen bei Männern liegt darin, dass sich die Symptomatik von jener bei Frauen unterscheidet. In den 1990ern stellten Expert:innen fest, dass männliche Patienten eher unter Aggressivität, Risiko- und Suchtverhalten, sowie Irritabilität litten. Schwäche, Hilfsbedürftigkeit, Traurigkeit und Antriebsverlust seien demnach klassische Symptome bei Frauen. Das hat zur Folge, dass depressive Verstimmungen bei Männern mit derselben Symptomatik seltener erkannt werden. Selbst stereotype männliche Eigenschaften wie Aggressivität und Feindseligkeit werden kaum mit Depressionen in Verbindung gebracht. Diese werden als gewöhnlicher Ausdruck männlicher Emotionalität gewertet und stellen daher kein Grund zur Sorge.
Lassen sich Suizide verhindern?
Obwohl Suizidprävention schon in den frühen 70ern einen Punkt im Regierungsprogramm darstellte, wurde in Österreich erst im Jahr 2012 eine bundesweite Kontaktstelle für Suizidprävention eingerichtet. Jedoch mangelt es manchen Bundesländern an eigenen finanziellen Mitteln. In der Steiermark, wo statistisch gesehen am zweithäufigsten Suizide verübt werden, gibt es bereits ein Kompetenzzentrum für Suizidprävention: „GO-ON“ konzentriert sich vor allem auf die Enttabuisierung und Vermittlung von Informationen zum Thema Suizidalität. Außerdem verfügt das Kompetenzzentrum auch über professionell ausgebildete Helfer:innen.
Um suizidgefährdeten Menschen zu helfen, müssen diese im Alltag unterstützt und auch behandelt werden. Dabei geht es allerdings nicht nur um gefährdete Personen an sich, sondern auch um sämtliche Berufsgruppen, die besonders häufig mit diesen zu tun haben. Dazu zählen beispielsweise Polizist:innen, medizinisches Personal, Lehrer:innen und auch AMS-Mitarbeiter:innen, die entsprechend ausgebildet werden müssen. Dabei geht es vor allem um das Erkennen und Einschätzen von Suizidalität und einen guten Umgang mit Risikogruppen.
Schwächen in der Prävention
Allerdings scheitert es in vielen Fällen schon am Zugang zu den erforderlichen Einrichtungen. Aus diesem Grund müssen Hilfsangebote wie Kriseninterventionszentren und Hotlines jederzeit gut erreichbar sein. Betroffene Personen – vor allem Männer – empfinden öfter eine starke Hemmung beim Aufsuchen unterstützender Einrichtungen. In den meisten Fällen sind es Scham und Hoffnungslosigkeit, die suizidale Personen davon abhalten, rechtzeitig zum Hörer zu greifen.
Dennoch gibt es Telefonnummern, die im Krisenfall zu jeder Tages- und Nachtzeit gewählt werden können. Dazu zählt die Telefonseelsorge (142) und für Kinder und Jugendliche Rat auf Draht (147). Eine bundesweite Kriseninterventionstelefonnummer wurde noch nicht eingerichtet. In Wien bietet das Kriseninterventionszentrum eine Anlaufstelle für Betroffene.
Weitere Infos zu Therapiemöglichkeiten:
Mehrpsychotherapiejetzt.at
Psychiatrische Soforthilfe – rund um die Uhr
01 / 313 30
Telefonseelsorge – rund um die Uhr
142
Berufsverband Österreichischer PsychologInnen – Mo bis Do 09-13 Uhr
011 / 504 80 00
Erschwerter Zugang zu Suizidmitteln
Männer greifen zu radikaleren Suizidmitteln als Frauen, worunter zum Beispiel der Einsatz von Waffen zählt. Aus diesem Grund ist es besonders wichtig, den Zugang zu „sicheren“ Suizidmitteln zu erschweren. Dazu zählen beispielsweise Restriktionen beim freien Zugang zu Medikamenten und Waffen, sowie bauliche Maßnahmen zur Suizidprävention.
Enttabuisierung von Suiziden
Innerhalb der medialen Berichterstattung ist es besonders wichtig, achtsam mit dem Thema Suizid umzugehen. Denn Berichte über Suizide können schlimmstenfalls Nachahmungssuizide (sogenannter Werther-Effekt) bewirken. Aus diesem Grund wurden Richtlinien geschaffen, die sensationsträchtige Darstellungen in den Medien verhindern sollen. Gleichzeitig können Journalist:innen allerdings sogar zur Suizidprävention beitragen, indem sie gefährdete Leser:innen über Anlaufstellen informieren und Details zur Suizidmethode aussparen.
Es handelt sich also um eine Gratwanderung zwischen angemessener Berichterstattung und gleichzeitiger Enttabuisierung des Themas Suizidalität bzw. Suizid. Daher ist es notwendig, die Bevölkerung zu informieren und aufzuklären. Betroffene sollten in ihrer Not nicht das Gefühl haben, mit ihren Sorgen alleine zu sein. Dies gilt bereits für psychische Erkrankungen, die leider nach wie vor nicht ernst genommen oder gar nicht erkannt werden.
In der Serie “Unlearning patriarchy” verlernen wir uns beigebrachte Geschichte und lernen sie aus einem neuen Blickwinkel zu betrachten. Das Schreiben einer gemeinsamen „We-Story” beginnt damit die alten Geschichten zu verlernen. Sanft, freundlich und vor allem mit dem Vorsatz wenig zu werten.