Article by Julia Roschinsky

Thomas Hübl: Warum sind wir alle traumatisiert?

Bin ich traumatisiert? Was hat Trauma mit mir zu tun? Was sind die Auswirkungen von Trauma? Wie kann ich Traumaarbeit leisten? Wie kann ich glücklich werden? Wie werde ich meine Traurigkeit los? Warum fühlt man sich abgetrennt von der Welt? Thomas Hübl, moderner Mystiker und spiritueller Lehrer, spricht mit The Wild Golden Egg über sein neues Buch “Kollektives Trauma heilen” und gibt Tipps, wie Mann und Frau sich aus ihren eingeübten Strukturen befreien können, um ein besseres Leben zu führen.

 

Den ganzen Talk mit Thomas Hübl könnt ihr in unserem Podcast nachhören 

Er lehrt an der Harvard University, ist international mit allen wichtigen Vordenker:innen der Traumaforschung vernetzt und bezeichnet sich selbst als modernen Mystiker. Thomas Hübl ist gebürtiger Wiener, lebt in Tel Aviv und hat eine weltweite Community aufgebaut, in der wir auch regelmäßig Innovation in die Welt gebären. Er sagt ganz klar: “Wir stehen an einem Scheideweg: entweder lösen wir die aktuellen Krisen durch Innovation, oder wir wiederholen die Vergangenheit. Es ist eine Fülle an innovativen Ideen und Ressourcen vorhanden. Damit wir sie effektiv nutzen können, müssen wir uns zuerst für die Erhaltung der Lebewesen einsetzen, die uns am nächsten sind: uns selbst.”

Trauma und die Reaktion im Körper

 

Uma: Was ist denn eigentlich Trauma?

Thomas Hübl: Viele Menschen glauben, dass Trauma etwas ist, dass uns passiert. Sie glauben, Trauma ist, wenn mich jemand verbal oder physisch attackiert. Oft denkt man auch an Kinder, die zuhause vernachlässigt werden. Man denkt an Eltern, die sich nicht um die Kinder kümmern und auch an Kriegssituationen.

Es gibt natürlich überwältigende Erfahrungen, aber das Trauma, mit dem wir uns beschäftigen, hat weniger mit der Erfahrung zu tun. Die ist natürlich wichtig, aber was wichtiger ist, ist die Frage: Was passiert denn mit uns in so einem Moment? Die ganze Trauma-Forschung beschäftigt sich mit den Fragen: “Wie geht denn das Nervensystem, die Psyche, der Körper, wie gehen wir denn innerlich mit solchen Situationen um?”

Und was wir da finden, ist: Im Nervensystem ist im Moment des Traumas ein extremer Stress. Wir sind super gestresst. Wenn man den normalen Lebensstress hat, dann ist das ja oft gesund, weil wir dann aktiv sind. Wir lernen dadurch unsere Herausforderungen zu meistern. Wenn der Stress aber eskaliert, dann gehen wir in einen „Fight or Flight“ Modus, wir wollen „Flüchten oder Kämpfen“.

Wenn man den Stress dann noch höher dreht, schaltet irgendwann das gesamte Nervensystem ab. Es friert ein. Wir sehen dann im Nervensystem, wie es zu einer Fragmentierung kommt. Da ist ganz hoher Stress. Ich bezeichne das oft so, als würde man eine Kriegsszene im Fernsehen sehen, und man nimmt die Fernbedienung und dreht den Ton ab. Die Szene geht ja immer noch weiter, nur ohne Ton. Das wirkt dann so, wie wenn unser Geist ein bisschen entrückt zuschaut, was im Leben passiert. Und manche Menschen, die Autounfälle hatten oder in ähnlichen Extremsituationen waren, beschreiben ihr Trauma genau so. Das ist, als würde man  etwas in Zeitlupe erfahren, als wenn man ein Gast ist, der zuschaut.

Dann könnte man sagen: Man nimmt den Fernsehschirm von der Wand, und schmeißt ihn ins Meer. Dann sinkt diese immer noch spielende Szene langsam ins Wasser ab, bis es irgendwann dunkel wird. Das heißt, da sinkt diese Erfahrung, also das übrig gebliebene Trauma in meinem Körper, die Trauma-Response oder Trauma- Antwort, in das Unterbewusstsein.

Wir merken das dann im Alltag oft dadurch, dass wir in manchen Situationen total überreagieren. Das zeigt sich durch ganz starke Emotionen, ganz starke Ängste, ganz viel Stress, obwohl die Situation das gar nicht so erfordern würde. Oder man merkt es dadurch, dass man nichts spürt, dass man indifferent ist, dass man antriebsloser, depressiver wird, dass das Leben schwerer wird.

Man merkt durch diese Symptome später indirekt das Trauma. Das wirkliche Trauma, das irgendwo tief im Körper abgespeichert ist, das findet man nur, wenn man anfängt, sich darum zu kümmern und beginnt, Heilungsarbeit zu machen. Das ist natürlich jetzt gerade sehr stark im Kommen ist. Weltweit ist das ein Riesenthema.

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Die kollektive Traumatisierung

 

Uma: Viele sagen: „Ich habe ja gar kein Trauma erlebt“. Dennoch sagst du auch, dass wir durch die Epigenetik traumatisiert sind. Das heißt, wir erben auch Erfahrungen. Es kann also sein, wenn es drei Generationen vorher Trauma gab, das nicht aufgearbeitet wurde, dann habe ich heute vielleicht Stress und weiß gar nicht, warum. Kannst du uns das genauer erklären?

Thomas Hübl: Zuerst einmal, viele Leute würden sagen: „Ich habe kein Trauma”. Das meinen sie im Sinne von: Ich war nicht im Krieg, ich hatte keinen starken Autounfall, ich hatte so große Ereignisse nicht. Man muss aber immer davon ausgehen, dass wir als Kinder, vor allem in den ersten paar Lebensjahren, sehr sensibel waren und vielleicht immer noch sind. In den ersten Jahren hängt das Trauma immer von der subjektiven Erfahrung. Wenn ich jetzt als erwachsener Mensch auf ein Kind schaue, würde ich sagen: „Das ist ja nicht so schlimm.“.

Aber vielleicht ist das für das Kind schon sehr schlimm. Zum Beispiel, wenn ein Kind eine Nacht alleine im Krankenhaus verbringen muss, ohne Eltern. Das ist furchtbar. Das ist eine existentielle Krise für das Kind. Oder wenn Kinder die ganze Nacht schreien. Es gab diese Zeit, wo man Kinder schreien ließ, weil man dachte, sie werden dadurch stärker, aber genau das Gegenteil passiert.  Die Kinder werden entkräftet von dem Gefühl, dass wenn sie sich im Leben melden, sie das Leben zu sich rufen können. Das ist total bestärkend, wenn ich merke, ich ruf nach etwas, und ich kriege etwas. Wenn ich dann  aber eine ganze Nacht schreie und da kommt niemand. Diese Dinge sind auch traumatisierend, aber oft denken wir bei diesen Dingen nicht an Trauma. Manche Leute denken heute immer noch, wenn ich meinem Kind eine Ohrfeige gebe, ist es gut, aber dem ist nicht so. Viele Kinder machen diese Erfahrungen und da sagen viele Leute dazu: „Naja, das hat man halt so gemacht“. Das ist aber auch traumatisierend.

Trauma in der Epigenetik

 

Thomas Hübl: Dann, wie du sagst, gibt es ja auch Trauma, das unseren Vorfahren passiert ist. Unseren Eltern, unseren Großeltern oder Urgroßeltern. Das kann man in epigenetischer Forschung richtig nachvollziehen. Wir Menschen, die zum Beispiel traumatisierte Großeltern haben, haben schon bei der Geburt größere Angst- und Stressrezeptoren als jemand, der aus nicht traumatisierten Vorfahren kommt. Da stellt sich die Frage, was das überhaupt bedeutet, nicht traumatisiert zu sein.

Wir arbeiten mit Isabelle Mansuy, einer Epigenetik-Professorin an der Uni Zürich, zusammen. Sie hat beobachtet, wenn sie in Mausexperimenten junge Mäuse für eine gewisse Zeit von den Eltern trennen, dann entsteht eine Traumatisierung. Wenn diese Tiere wieder zusammenkommen und man das bei den nächsten Generationen nicht macht, dann haben bis zu fünf oder sechs Generationen dieselben Trauma-Symptome.

Das heißt, da setzt sich etwas fort, obwohl die jüngeren Generationen diese Erfahrung gar nicht gemacht haben. Jetzt können wir davon ausgehen, dass wenn wir zum Beispiel in den Nachkriegsgenerationen geboren worden sind, natürlich einiges von dem Krieg in uns nachhallt. Wir nennen das dann oft persönliche Ängste: „Ich habe persönliche Ängste, ich habe persönlichen Stress“. Es wäre wichtig sich anzuschauen: Wo ist denn die Wurzel von alldem? Wo kommt denn das alles her?

Außerdem sind Menschen reaktiv, dass heißt, dass wir viele Konflikte haben, dass Gewalttaten passieren. Das Konzept „Power Over“ bedeutet, mit Kraft oder Macht zu regieren anstatt über Kompetenz und Beziehung zu leiten. Das sind total unterschiedliche Felder. Ich glaube, wir sind über Jahrhunderte oder Jahrtausende geprägt von „Macht Über“-Führungsstilen oder auch familiären, autoritären Stilen, uns in Kompetenz-Hierarchien zu entwickeln. Es gibt aber auch Stile, die viel mehr beziehungsdynamisch sind, die viel mehr Beziehung brauchen, die viel heilsamer sind.

Wir haben alle blaue Flecken, Wunden quasi, von dieser „Macht Über“ Dynamik. Das Patriarchat ist auch eine große Dimension davon, ebenso wie der Kolonialismus. Wir in Europa müssen uns immer noch mit den Nachwirkungen des Kolonialismus beschäftigen. In Amerika muss man sich auch mit dem Rassismus beschäftigen, genauso mit dem Antisemitismus in Europa.

Trauma-Kompetenz als Prävention

 

Uma: Du bist aus Österreich weggezogen und hast immer wieder davon gesprochen, dass der Holocaust noch ein großes Trauma-Feld ist. Wir wollen heute auch darüber sprechen, dass Österreich ein Land mit einem tödlichen Pflaster für Frauen ist. Wir haben 2021 sehr viele Frauenmorde gehabt, geschätzt jeden dritten Tag wird eine Frau in Österreich umgebracht oder geschlagen oder gedemütigt. Die Regierung versucht hier Maßnahmen und Pakete zu entwickeln, Frauenhäuser zu bauen, aber wie sieht das Trauma zwischen den Geschlechtern aus? Wir müssen da vielleicht vielleicht neue Wege entwickeln. Wirken da immer noch Traumata aus Zeiten der Hexenverbrennungen? Frauen werden schließlich seit Tausenden von Jahren als das mindere Geschlecht behandelt. Wie siehst du das?

Thomas Hübl: Zuerst macht es mich natürlich betroffen, das zu hören, weil es einfach sehr schmerzhaft ist. Ich glaube, jedes Mal wenn wir zuhören, wie jemand darüber spricht, dann gibt es zwei Erfahrungsmöglichkeiten. Das eine ist, dass ich wie ein distanzierter Zuhörer bin. Ich höre über Frauenmorde, die passieren. Aber meine innere Erfahrung ist schon ein bisschen entkoppelt, als hätte das nichts mit mir zu tun. Als wäre das irgendwo da draußen. So hören wir News und Nachrichten. Es erzählt uns jemand etwas, aber es fühlt sich oft distanziert an.

Oder aber, ich frage mich: “Wir sprechen hier von etwas sehr krassem. Frauenmorde sind krass. Warum bin ich denn da so indifferent? Ich höre etwas, das eigentlich total schmerzhaft ist, und spüre aber nichts.” Das in Frage zu stellen, die Gefühle nicht abzuwerten, das ist wichtig. Wir lernen, festzustellen: „Ich bin ja überhaupt nicht beteiligt. Warum fühle ich denn keine Nähe zu dem Gesagten, das mich betrifft?“.

Das ist schon das Trauma-Symptom der Trennung, denn Trauma schafft Trennung. Trauma schafft Andere: “Das sind die, und das sind wir.” Das ist so normal, dass es uns gar nicht auffällt, weil wir das täglich produzieren. Wir schon in einer Dynamik drinnen, wenn wir so denken, die uns gar nicht auffällt.

Der Trauma-Kreislauf

 

Thomas Hübl: Wenn ich einmal glaube, ich habe Recht, und die anderen, die verstehen es nicht: Wie entsteht denn dieser Gedankengang überhaupt? Darüber habe ich in meinem Buch geschrieben. Wir normalisieren Trauma und es wird Teil unserer Gesellschaft. Dann nennen wir es nicht mehr Trauma. Die Tatsache, dass wir es nicht so nennen, bedeutet, dass die Normalisierung anfängt, das Trauma zu verdecken. Wenn Trauma einmal verdeckt ist, dann gibt es dazu keinen Zugang mehr, denn dann ist es normalisiert. Als wäre das Leben einfach so.

Was ich damit sagen möchte, ist: Trauma generiert wieder Traumatisierung. Wir sehen beispielsweise Jahrtausendelang, wie Traumatisierung zwischen den Geschlechtern passiert ist. Dann kann man auch mit einbeziehen, dass viele dieser Männer auch Kriegserfahrungen hatten, wo sie selber traumatisiert waren.

Ich glaube, dass wir als Individuen, von einer traumatisierenden Kultur, wo mehr Trauma passiert als integriert wird, hin zu einer Trauma-informierten Gesellschaft wechseln. Ein gewisser Grad der Bevölkerung weiß zumindest einmal: “Das ist Trauma, das macht es, so erleben wir das, so erlebe ich das bei anderen“.

Wenn im Supermarkt jemand reaktiv wird und herumschreit, dann sehe ich Trauma in Aktion. Wenn ich das persönlich nehme, dann geht das total am Punkt vorbei. Wenn ich aber sehe, da berührt jemanden ein starker Trauma- Stress und das drückt sich so aus, dann habe ich dazu eine ganz andere Beziehung und kann vielleicht auch ganz anders auf die Person zugehen, weil das für mich nicht mehr so persönlich bedrohlich ist.

Dadurch entsteht mehr kollektive Bewusstheit dafür, und ich glaube, das brauchen wir. In der Zeit, wo ich studiert habe, da war ich beim Roten Kreuz als Freiwilliger für viele Jahre und habe Leute ausgebildet. Sanitäter, und Leute, die den Erste-Hilfe-Kurs gemacht haben. Es war ganz klar, dass wenn wir als Rettung irgendwo hinkamen, wo ein Unfall war, wo jemand anwesend war und zumindest die wichtigsten Dinge beachtet hat, dann machte das einen großen Unterschied für uns als Rettung. Denn es gab oft viele Dinge, die jemandem das Leben hätten kosten können. Ich glaube, so wie der Erste-Hilfe-Kurs für den Führerschein hilft, dass sich viele Leute ein bisschen auskennen, könnte ein Konzept für Trauma helfen.

Trauma-Loyalität

 

Uma: Wovon du auch sprichst, ist das Thema “Trauma-Loyalität”. Es gibt eine unbewusste Loyalität zum Trauma, wie zum Beispiel zu den patriarchal-toxischen Dingen, die passieren. Was ist Trauma-Loyalität?

Thomas Hübl: Ich sage oft zu Eltern, dass wir alle wissen müssen, dass unsere Kinder unsere Gefangenen sind. Die können nicht weg. Als Kind mit zwei Jahren zu sagen: „Schaut mal, das geht für mich überhaupt nicht, ich bin jetzt weg, ich hole mir andere Eltern“, das passiert sehr selten. Wenn Eltern gute Elternschaft bieten, dann ist das total super für das Kind. Das Kind ist zuhause sicher, es hat Kontakt mit Beziehung, die Bedürfnisse werden erfüllt, das Potenzial von dem Kind wird erkannt und die Stimme von dem Kind, die Lebensenergie von dem Kind, kann sich gut entwickeln. Daraus entsteht ein Mensch, der selbstsicher ist, der kreativ sein kann, der Probleme flüssiger angehen kann und weiß, dass wir die Welt gemeinsam gestalten können.

Aber für viele von uns haben Anteile dieser Erziehung gefehlt. Wir können nicht weg, wir können uns außen nicht flüssig regulieren. Das heißt, wenn da ein gewalttätiger Vater oder eine gewalttätige Mutter ist, dann kann sich das Kind nur sehr bedingt schützen. Das heißt, wir fangen an, innere Schutzmechanismen zu entwickeln, wie wir innen die Lautstärke und die Intensivität von dem Schmerz reduzieren. Es hat natürlich Kosten, das zu machen. Das geht auf unsere Kosten später im Leben.

Das ist, als würde man Plastilin nehmen, eine Plastilin- Figur, und dann drückt man eine Außenform ab. Dann bleibt die Form im Plastilin abgedrückt sichtbar. Wenn wir jetzt zum Beispiel mit Gewalt groß werden, dann haben wir als Kinder trotzdem versucht, die Liebe unserer Eltern als Kinder zu kriegen, auch wenn es wehtat. Diese Mechanismen, die fixieren sich. Das heißt, wenn ich später in einer intimen Beziehung ende, wo ich trotzdem über gewisse Kanäle Liebe kriege und auf der anderen Seite aber auch Gewalt erfahre, dann würde man von außen auf die Beziehung schauen und sagen: “Wie kann denn jemand in so einer Situation bleiben?“

Wir sehen aber nicht den unsichtbaren Plastilin- Abdruck der Trauma-Loyalität. Wenn man da von außen draufschaut und sagt: „Wie kann man sich denn so verhalten? Das geht doch gar nicht!“, wenn man also Menschen, die in solchen Situationen bleiben, verurteilt, dann übersieht man total, warum das so ist.

Wenn man aber erkennt, warum das so ist, dann kann man beginnen, mit dieser Wurzel zu arbeiten und dann können sich Menschen besser aus diesen Situationen lösen und neue Wege gehen. Ich glaube, dass wir oft in dieser Loyalität unbewusst bleiben. Es ist ja nicht so, dass es diesen Menschen immer bewusst ist. Wenn das so leicht wäre, dann würde es diese Situationen nicht geben.

Das heißt, wir haben viele unbewusste Antriebe, die uns tagtäglich bewegen, von denen wir gar nicht wissen, dass diese stattfinden. Ich glaube, diese Trauma- Loyalität ist ein Beispiel davon. Das sieht man auch oft. Wenn in Familien zum Beispiel viel Leid ist, dann können diese Menschen kaum glücklich sein. Denn wenn sie glücklicher werden, kommt eine Stimme in ihnen hoch und sagt: „Wenn ich zu glücklich werde, dann wird alles zerfallen.“

Das heißt, es gibt eine innere Verbindung von dem Leiden, das sie von ihrer Familie gewohnt sind und deswegen können diese Menschen kaum ins Leben gehen und sagen: „Ja, ich kann trotzdem ein glückliches Leben führen und es wird nicht alles zusammenfallen, wenn ich glücklich bin “. Das ändert sich, wenn diese Menschen das Geschehen aufarbeiten, weil sie sich von dieser Loyalität innerlich lösen können und einen eigenen Ausdruck finden können.

Ein Schritt zur Heilung

 

Uma: Du sagst auch: Trauma kann sich nur in einem Raum zeigen, wo man das Gefühl hat, dass es eine Verbindung gibt, dass es einen liebevollen Blick gibt, sonst bleiben wir  für immer eingefroren. Unsere Gesellschaft hat keine Räume kreiert, wo diese Co-Regulation stattfinden kann. Wir haben ein Mediensystem, das ausschließlich trennend kommuniziert, wo wir auch ein gewisses strukturelles Gaslighting finden, das Frauen betrifft. Wie können wir uns dann als Gesellschaft kollektiv einem Heilungsprozess annähern?

Thomas Hübl: Zuerst ist eine Trauma-Informiertheit wichtig, weil solange ich nicht weiß, dass es mein Trauma gibt, nehme ich an, dass das Leben einfach so ist. Aber so ist es eben nicht! Ich würde immer sagen: „Normalerweise ist das nicht so. Das passiert nur, wenn das Leben verletzt ist.“ Wenn ich eine Riesenverletzung habe und ich komme zu dir und beschwere mich, dass ich permanent irgendwelche krassen Infektionen habe, dann würdest du zu mir sagen: „Thomas, du musst unbedingt ins Krankenhaus fahren. Du musst die Verletzung versorgen lassen, weil sonst kriegst du immer wieder neue Infektionen.”

Das scheint uns klar. Wenn ich das Trauma nicht als Wunde bezeichne, dann stimmt etwas nicht, weil dann verleugne ich ja, dass das eine Wunde ist. Wenn ich nicht weiß, dass es das Trauma gibt und nicht honoriere, dann verstehe ich nicht, dass es es viele von uns in sich tragen und das kein Stigma ist, sondern etwas, in das wir reingeboren wurden, dann verstehen wir viele Dinge, die uns auch in unserer Kindheit oder in unserer Jugend schon passiert sind. Wir beginnen, einen Kulturraum zu bauen, der Trauma-informiert ist,  dann Trauma-sensitiv, und dann Trauma-integrierend.

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Thomas Hübl: Das sind unterschiedliche Stufen von gesellschaftlicher Entwicklung. Die gute Nachricht ist, dass wir alle eine Superpower haben, die jedem in die Wiege gelegt wurde, und das ist Beziehungsfähigkeit. Das heißt, wenn wir lernen, unsere Beziehungsfähigkeit zu trainieren, zu integrieren, zu praktizieren, dann können wir einen Riesenbeitrag leisten.

Einfach nur aufmerksames Zuhören hilft. Wenn du etwas sagst, das in mir eine Resonanz auslöst, wenn du mir etwas erzählst, dann löst das Achtsamkeit aus. Dann kann ich Raum geben, mich aber auch mitteilen. Trauma schafft ja Isolierung. Mehr Alleinsein, mehr Trennung. Das heißt, was brauchen wir? Wir brauchen mehr Beziehung, wir brauchen mehr Miteinander, Räume schaffen, Mitschwingen, Resonanz.

In der Neurowissenschaft hat Steve Porges, ein amerikanischer Neurowissenschaftler, etwas wichtiges herausgefunden. Das parasympathische Nervensystem ist das System, dass unseren Körper wieder in die Entspannung führt, das läuft durch unser Herz. Es gibt einen vorderen und einen hinteren Teil. Der vordere Teil ist wie ein USB-Plugin. Wenn jemandes Kind zum Beispiel gestresst ist und die Eltern nehmen das Kind und umarmen es, dann entsteht zwischen diesem Plugin und dem Nervensystem des Kindes eine Resonanz. Diese Resonanz hilft dem Kind, sich zu entspannen, und das schafft ein Gefühl von Sicherheit. Das heißt, ich fühle dich und ich fühle dich, wie du mich fühlst. Das ist die Grundlage von Beziehung. Das heißt, wenn ich in der Firma sitze und jemand spricht, und ich fühle die Person, die mit mir spricht, oder wenn ich mit meinem Partner bin, oder mit meinen Kindern, oder irgendwo in der Gesellschaft, und ich bin wirklich da, ich bin präsent und ich schwinge mit, dann fühle ich mit, dann entsteht ein sicherer Raum.

Unser Nervensystem ist Millionen von Jahre alt. Das ist ein superintelligenter Supercomputer. Es weiß genau: Wo kann ich die wirkliche Traumatisierung wieder langsam öffnen, damit sie sich verdauen kann, damit sie sich integrieren kann, und zu posttraumatischem Lernen wird. Die zweite gute Nachricht ist, wenn wir uns wirklich um unser Trauma kümmern, werden wir alle weiser. Wir werden alle intelligenter, wir alle lernen etwas davon.

 

Mehr zur Trauma-Forschung findet ihr in Thomas Hübls Buch: “Kollektives Trauma heilen- Persönliche und globale Krisen verstehen und als Chance nutzen”:

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